Die Proteste gegen den Naziaufmarsch in Demmin am 8.5.2014 wurden von zum Teil massiver Polizeigewalt überschattet. Dabei begannen die Aktionen zunächst überaus friedlich und auch die Polizei agierte deeskalierend. Lediglich Vorkontrollen gegen Protestierende aus anderen Bundesländern ließen erahnen, dass die Polizei die Grundrechte der Gegendemonstrant*innen nicht ausreichend achtet. Nach Beginn des Naziaufmarsches wurde jedoch zunehmend unverhältnismäßige Gewalt gegen die Demonstrierenden eingesetzt. Die versammlungsrechtlichen Vorschriften, die auch Gegenproteste schützen, wurden häufig missachtet und einseitig das Versammlungsrecht der Nazis durchgesetzt. Diese Gesamtstrategie der Einsatzkräfte, die eine Abwägung der unterschiedlichen Grundrechtspositionen völlig vermissen ließ, sorgte für eine aufgeheizte Stimmung, die Verletzungen bei den Protestierenden billigend in Kauf nahm. Dass es durch das übermäßig harte Vorgehen von Polizeikräften tatsächlich zu mehreren Verletzten kam, ist die logische Folge daraus. Trauriger Tiefpunkt ist die Festnahme eines Demonstranten, der dabei so brutal angegangen wurde, dass er bewusstlos wurde und ins künstliche Koma versetzt wurde. Sowohl dieser Einzelfall als auch die Gesamtstrategie bedürfen der Aufarbeitung. Die bisherigen Stellungnahmen der Polizei lassen jedoch befürchten, dass mit einer Diffamierung der Gegenproteste versucht wird, das eigene Vorgehen zu rechtfertigen.
Im Einzelnen:
Zum Teil überzogene Vorkontrollen
Kurz vor Ankunft in Demmin wurden die Busse mit den Demonstrierenden angehalten und kontrolliert. Bei den Greifswalder Bussen gestaltete sich dies noch recht unproblematisch. Lediglich in einem Bus wurden einfache Sichtkontrollen der mitgeführten Taschen durchgeführt, was sich noch auf §§ 57 Nr. 6, 29 I 2 Nr. 4e) SOG M-V stützen lässt.
Unzulässige Kontrollen wurden jedoch von den Berliner Bussen berichtet. Hier wurden nicht nur mitgeführte Sachen durchsucht, sondern auch Personen abgetastet, was als Durchsuchung von Personen i.S.d. § 53 SOG M-V nicht an allgemeinen Kontrollstellen vor Versammlungen zulässig ist, sondern tatsächliche Anhaltspunkte dafür erfordert, dass gefährliche Gegenstände mitgeführt werden. Aufgrund des friedlichen Protests der letzten Jahre erscheint eine solche Prognose jedoch überaus zweifelhaft. Gleiches gilt für das Videografieren der Businsassen. Noch gravierender ist jedoch, dass auch bei Journalisten mit Presseausweis und Sanitätern keine Ausnahme gemacht wurde. Begründet wurde dies vom anwesenden Polizeiführer damit, dass sie ja schließlich gemeinsam anreisten und deshalb gleichbehandelt würde. Das verkennt jedoch, dass die gemeinsame Anreise von Journalist*innen bzw. Sanitäter*innen gerade sinnvoll ist, da sie nur möglichst nah bei den Demonstrierenden ihre Aufgaben erfüllen können. Das gilt für die Anreise genauso wie für die eigentliche Versammlung. Die pauschale Gleichbehandlung wird dem besonderen Schutz, den diese Berufsgruppen genießen, nicht gerecht.
Friedliche Blockaden
Die Proteste gegen den Naziaufmarsch verliefen zunächst ausgesprochen ruhig. Dies gilt auch für die Sitzblockaden, die sich kurz nach 17h in der Pompe-Str./Goethestr., der Bahnhofstr., der Peenestr. sowie der Nikolaistr. bildeten. Lediglich in der Pompe-Str. kam es später zu kleineren Rangeleien, als eine Gruppe von Demonstrierenden daran gehindert wurde, zur bestehenden Blockade zu stoßen. Insgesamt agierte die Polizei jedoch deeskalierend und zeigte sich kommunikationsbereit. So wurden Einsatzkräfte etwa angewiesen, ihre Helme abzunehmen, um eine einschüchternde Wirkung zu vermeiden. Dies war auch angemessen, denn schließlich verhielten sich auch die Demonstrierenden vollkommen friedlich. In Gesprächen machten Polizisten deutlich, dass sie das Recht auf Protest in Sicht- und Hörweite der Nazidemo anerkennen.
Bei der Bewertung der Blockaden zeigten leitende Polizisten jedoch eine erstaunliche Unkenntnis des Versammlungsrechts. So wurde in der Peenestr. die Versammlungseigenschaft der Blockade verneint, weil ein*e Leiter*in fehle. Seit den 1980ern ist hingegen gerichtlich geklärt, dass ein*e Leiter*in für eine Versammlung keine Voraussetzung ist. In der Bahnhofstr. wurde die Versammlung dagegen als Verhinderungsblockade eingestuft, weshalb sie nicht vom Grundgesetz geschützt sei. Selbst wenn man dieser (rechtlich umstrittenen) Einschätzung folgt, macht das jedoch eine Auflösung der Versammlung nicht entbehrlich, um gegen sie vorzugehen. Als die Nazis ihren „Trauermarsch“ gegen 20 Uhr begannen, wurden die Blockade jedoch von Polizeikräften und -wagen umstellt und auch nach deren Vorbeiziehen noch knapp 30min festgehalten. Mangels Auflösungsverfügung widerspricht dies dem Versammlungsgesetz. In der Peenstr. gab es zwar eine zweimalige Aufforderung zum Verlassen der Blockade – als die Nazis am anderen Ende der Innenstadt los liefen, wurden die Polizeikräfte jedoch abgezogen. Als über eine Stunde später gegen diese Blockade vorgegangen wurde, hatte sich jedoch deren Zusammensetzung geändert, sodass neue Ansagen erforderlich gewesen wären.
Entlang der Naziroute unüberlegtes Vorgehen und zum Teil brutale Gewalt der Polizei
Die Nazis wurden zunächst an der Pompestr./Goethestr. in sehr geringem Abstand an der dortigen Blockade vorbei geleitet. Ein solches Vorgehen ins zwar riskant, Gegendemonstrant*innen und Polizei verhielten sich jedoch friedlich. Im weiteren Verlauf wurde die Lage jedoch immer unruhiger. So kam es etwa am Marktplatz zu Rangeleien zwischen der Polizei und Demonstrierenden, die zur Naziroute vorstoßen wollten oder den Anweisungen nicht sofort folgten. Im Bereich Holstenstr./Heiliggeiststr. strömten zahlreiche Menschen aus unterschiedlichen Richtungen auf die Straße und bildeten mehrere Blockaden. Die Polizei agierte sichtlich nervös und setzte zunehmend Zwangsmittel ein. Demonstrierende (und auch AKJ-Demobeobachter*innen) wurde vehement zur Seite gestoßen, bereits Sitzende von der Straße gerissen, an mindestens eine Stelle wurde Pfefferspray eingesetzt. Dieses Vorgehen war bereits deshalb unverhältnismäßig, weil von den Demonstrierenden keinerlei Gewalt ausging. Wir beobachteten weder dort noch an irgend einem anderen Ort in Demmin körperliche Angriffe auf Polizeikräfte, sondern ausschließlich verbalen Protest.
Auch der Versammlungscharakter wurde vollkommen verkannt. Spätestens hier konnte sich die Polizei nicht mehr auf angebliche reine Verhinderungsblockaden berufen, denn die Protestierenden waren hier besonders zahlreich und vielfältig. Eine korrekte Einsatzleitung hätte den Naziaufmarsch vorübergehend gestoppt, die Lage beruhigt, sich einen Überblick verschafft und dann versucht, das Versammlungsrecht beider Seiten zur Geltung zu bringen. Stattdessen wurde einseitig und gewaltsam gegen die Gegendemonstrant*innen vorgegangen. Ohne klaren Ansagen und ohne ausgewogenen Strategie wurde der Naziaufmarsch hektisch und unter Eingehung eines hohen Risikos durch die protestierenden Menschen hindurch geschleust.
Besonders skandalös ist das Vorgehen gegen einen französischen Demonstranten, der in der Nähe der Sparkasse festgenommen wurde. Auch wenn einige Umstände der Festnahme noch unklar sind bzw. unterschiedliche Angaben bestehen, muss aufgrund der vorliegenden gesicherten Informationen das Polizeiverhalten als absoluter Tiefpunkt ihres Einsatzes bezeichnet werden. Der Mann wurde gefesselt, erst vehement gegen eine Wand und dann zu Boden gedrückt. Dabei schrie er ersichtlich um Hilfe und bekam keine Luft. Obwohl der Festgenommene nur wenig deutsch versteht, verweigerte die Polizei französischsprachigen Menschen zu übersetzen. Insbesondere durfte aber ein anwesender Arzt trotz dringender Not nicht die gebotene Hilfe leisten. Der Franzose verlor das Bewusstsein, blieb jedoch gefesselt und wurde erst nach wohl min. 10 Minuten mit Eintreffen des Rettungswagens versorgt. Er musste ins künstliche Koma versetzt und direkt in das Greifswalder Krankenhaus gebracht werden.
Die Polizeikräfte nahmen mit ihrem Verhalten erhebliche Schädigungen des Demonstranten billigend in Kauf oder riskierten diese zumindest grob fahrlässig. Eine strafrechtliche Aufarbeitung des Vorfalls erscheint deshalb dringend geboten. Er zeigt in erschreckender Weise, wie gering die Polizei die Gesundheit der Gegendemonstrant*innen schätzte, gerade im Vergleich zur Vehemenz, mit der der Weg für den Naziaufmarsch frei gemacht wurde.
Auch in der Umgebung des Zwischenkundgebungsortes der Nazis gingen die Einsatzkräfte zum Teil unnötig gewaltsam gegen die Gegendemonstrant*innen vor. Am Hafen bildeten zahlreiche Menschen eine Blockade. Eine zunächst geringe Anzahl an Polizist*innen versuchte mit Hunden, diese aufzuhalten. Entgegen der Darstellung der Polizei wurde jedoch keine Polizeikette durchbrochen, Demonstrant*innen nutzten lediglich vorhandene Freiräume. Aber auch wo sie bereits zum stehen gekommen waren, wurden sie zum Teil heftig angegangen. So attackierte ein Hundeführer mit einem brutalen Fußtritt einen Demonstranten, der diesen fotografierte. Kritikwürdig erscheint insbesondere der Einsatz der Hunde, mit deren Hilfe versucht wurde, die Demonstrierenden zurück zu drängen. Mehrfach sprangen die Tiere die Demonstrant*innen an, mindestens einer wurde durch einen Hundebiss verletzt. Erschreckend war daraufhin die Aussage eines Polizisten, dass der Hund bereits zuvor einen Polizisten gebissen habe. Wenn die Polizei die eigenen Mittel nicht im Griff hat, ist es unverantwortlich, diese gegen andere Menschen einzusetzen.
Als sich die Lage zunehmend beruhigt, fuhren zwei Wasserwerfer auf, wofür die Blockade in der Peenestr. geräumt wurde. Diese nun unnötige Bedrohung zeigt, dass die Einsatzleitung weiterhin übertrieben hektisch versuchte, durch unbedachten Einsatz von Zwangsmitteln den Naziaufmarsch durchzusetzen. Gleiches gilt für das riskante Vorgehen an der Blockade in der Nikolaistr., wo die Nazis über den Gehweg an den Hafen geleitet wurden.
Unverhältnismäßig war es auch, den Einsatz der Wasserwerfer nicht nur für das Durchbrechen der Polizeikette anzudrohen, sondern auch für den Fall der Vermummung.
Auch im Nachgang wurden die Rechte der Protestierenden stark eingeschränkt. Alle wurden – egal ob am Hafen, in der Peenestr. oder Nikolaistr. – über mehr als eine Stunde eingekesselt und durften sich nicht fortbewegen. Auch diese faktische Freiheitsentziehung geschah ohne Auflösungsverfügungen oder sonstigen Ansagen. Immerhin wurden teilweise Toilettengänge nach Verhandlungen erlaubt, ansonsten ließ die Polizei versammlungsrechtliche Standards vermissen.
Probleme mit der kritischen Öffentlichkeit
Nicht nur am Hafen , sondern auch an zahlreichen anderen Orten wurde die Pressearbeit stark behindert. Exemplarisch ist aber etwa, dass eine Journalistin kräftig hinter die Polizeiabsperrung gezerrt wurde und so die Nazikundgebung nicht mehr beobachten konnte. Solch eine Vorgehensweise – die Berichten zufolge häufig vorkam – wurde anscheinend damit begründet, die Nazis hätten auf ihrer Kundgebung Hausrecht, der Ausschluss der Presseleute sei zwischen ihnen und Polizei abgesprochen. Dies verkennt in eklatanter Weise die Rechtslage. Denn das Hausrecht gibt es gem. § 7 IV VersammlG nur auf Versammlungen in geschlossenen Räumen. Wenn sich die Nazis für eine Versammlung im öffentlichen Raum entscheiden, müssen sie (und die Polizei) auch die Anwesenheit einer kritischen Öffentlichkeit dulden. Das Vorgehen der Polizei ist auch deshalb völlig unverständlich, weil sie während des ganzen Tages kein Problem damit hatte, dass Nazis Gegendemonstrant*innen ablichteten. Einschränkungen der von Art. 5 GG geschützten Presse zeugen vor diesem Hintergrund von einem bedenklichen Grundrechtsverständnis.
Ebenfalls am Hafen brachte ein Polizist einen den Einsatz fotografierenden Mann auf, die gemachten Bilder wegen angeblicher „Verstöße gegen das Urheberrecht“ zu löschen und sich auszuweisen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dürfen Einsätze der Polizei als Geschehnisse von öffentlichem Informationsinteresse abgelichtet werden. Selbst wenn die Veröffentlichung von Porträtfotos von einzelnen Polizeikräfte ggf. deren Persönlichkeitsrecht verletzen, berechtigt das die Polizei noch nicht dazu, deren Aufnahme zu verhindern.
Tendenziöse Darstellung der Polizei und unhinterfragte Übernahme der Lokalmedien
Doch die kritische Öffentlichkeit wurde nicht nur vor Ort behindert, auch im Nachhinein versuchte die Polizei massiv, mit Pressemitteilungen die öffentliche Meinungsbildung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dass dies zunächst unhinterfragt von NDR und Nordkurier übernommen wurde, ist umso bedauerlicher. Hätten sie ihrer Reporter*innen vor Ort gefragt, wäre ihnen schnell aufgefallen, dass allein schon aufgrund der genannten Zahl von 200 Gegendemonstrant*innen mit dem Wahrheitsgehalt der PM etwas nicht in Ordnung sein kann. Äußerst problematisch ist aber der Inhalt, der sich in einer Diffamierung der Gegendemonstrant*innen als linke Gewalttäter*innen erschöpft. Dies wird unter anderem mit Beschädigungen an Autos von Polizist*innen in Rostock begründet, zu denen sich seit dem 8. Mai um 23:06 Uhr ein Bekennerschreiben auf linksunten.indymedia findet. Da sämtliche Polizeikessel, in denen sich nahezu alle Gegendemonstrant*innen in Demmin befanden, erst eine halbe Stunde zuvor geöffnet wurden und die Fahrtzeit nach Rostock gut eine Stunde beträgt, zeigt dies deutlich, dass es der Polizei mit der Konstruktion von Zusammenhängen nicht um kriminalistische Sorgfalt, sondern um Meinungsmache geht.
Wie in diesem Bericht dargestellt, verliefen die organisierten Proteste, an denen sich mehrere hundert Menschen beteiligten, allesamt friedlich, obwohl sie oft mit gewaltsamen Polizeimaßnahmen konfrontiert waren. Die von der Polizei beschriebenen Gewalttaten mögen irgendwie mit den Geschehnissen in Zusammenhang mit den Veranstaltungen in Demmin stehen. Wären die Protestierenden aber wirklich so gefährlich wie von der Polizei beschrieben, hätte es in Demmin massive Ausschreitungen gegeben, angesichts dessen, dass die Nazis mehrfach in geringem Abstand an Blockaden vorbei geleitet wurden.
Es ist jedoch gerade vor dem hohen Gut der Versammlungsfreiheit unzulässig und für eine demokratische Kultur gefährlich, die große Masse der friedlichen Demonstrierenden mit vereinzelter Gewalt in einen Topf zu werfen. Eine solche Rhetorik führt zu einem Generalverdacht gegen alle Demonstrierenden, der sich in den oben genannten überzogenen Vorkontrollen und unverhältnismäßigen Zwangsmitteleinsätzen niederschlägt. In einem liberalen Rechtsstaat ist jedoch das Vorgehen der Staatsgewalt stets begründungsbedürftig, während die Bürger*innen sich nur bei konkreten Vorwürfen rechtfertigen müssen. Polizei und Innenminister täten deshalb gut daran erst zu klären, wie es passieren kann, dass ein Demonstrant wegen eines Polizeieinsatzes ins künstliche Koma versetzt werden muss, statt dem organisierenden Protestbündnis vorzuwerfen, dass sie Menschen aus anderen Ländern in die Proteste einbindet.
* Zum Selbstverständnis der AKJ-Demobeobachtung siehe http://recht-kritisch.de/index.php/demobeobachtung/. Der AKJ war am 8.5.2014 mit zehn Demobeobachter*innen in Demmin vor Ort und dokumentierte an zahlreichen Orten, ob die Rechte der Gegendemonstrant*innen eingehalten wurden. Die kursiven Abschnitte beziehen sich auf Vorkommnisse, die wir nicht selbst beobachtet haben, die wir aber für bedeutsam und aufgrund von Medienberichten und übereinstimmenden Augenzeugenaussagen für glaubwürdig halten. Der Bericht stellt eine Auswahl der beobachteten Geschehnisse zusammen, die wir für bemerkenswert halten, und bewertet diese. Auf vertiefte Darstellungen zu den Tatsachen sowie den rechtlichen Bewertungen verzichten wir wegen des ohnehin schon großen Umfangs, antworten aber gerne auf diesbezügliche Nachfragen: akj-greifswald [ät] systemausfall . org.
Bild via Endstation rechts